Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Hg. Stiftung Schloss Neuhardenberg, 2009
ohne Mimesis - Jakob Mattner
Hubertus von Amelunxen



Uns beide, Wassilij Iwanowitsch und mich, hat die Anonymität aller Teile einer Landschaft, die der Seele so gefährlich ist, immer beeindruckt, die Unmöglichkeit, jemals herauszufinden, wohin der Pfad, den man gerade sieht, führt – und schau, was für ein verführerisches Dickicht!
Vladimir Nabokov, Wolke, Burg, See, Marienbad 1937


Könnten Bilder an Blicken anschwemmen, was ihnen die Welt vorenthält, vorbildlos gestrandete Sichten, dann wären die Bilder den Landschaften von Jakob Mattner ähnlich, keinem Ort ursprünglich, nirgendwo gesehen und keiner Zeit ganz zugehörig, verfallen im eigenen Entstehen, belichtet vorbei.


Eine einzigartige Magie umgibt die neuen Arbeiten von Jakob Mattner, als wären Träume über die Lebenszeit hinaus gesammelt und in einem Mal ausgeschüttet, und so ganz disparate Momente sich in Bildern zusammenfinden, da wir im Schlamm den Himmel der Wolken anschauten und rückwärts die Augen in den Wellen tauchten, die Augen in fremden Welten rollten, wo Licht und Dunkel Karussell fahren, und der Wind die Dinge ins Bild einwischt oder mit sich fortträgt.
Spuren des Lebens schenken die Bilder, Nachbilder, die nichts nachahmen, und doch so wahrhaftig scheinen, als wären sie photographisch. Schattenbilder, Skiagraphien, Bilder, die den Blick im Augenaufschlag innerer Abdunkelungen zeigen, da alles vor Augen steht, ohne dass wir verstünden, was diese Welt zusammenhält, und eigentlich ist gar nichts mehr von dem, was wir in den auftreibend stillen Gouachen sehen, aus der Welt.
Und doch scheinen die Bilder von einem unendlich zerdehnten Augenblick zu zeugen – „ungeheuerlich“, hätte W. G. Sebald gesagt, – in dem ganze Jahrhunderte oder Jahrtausende sich verdichten, immer noch, bis zu diesem Moment hin und morgen noch.

Es hört nicht auf, da finden sich auch andere ein, erkennen sich, meinen, in den Wassern ertrunken, in der Wüste verdurstet, in die Kluft gestürzt oder in jenem Land verloren gewesen zu sein, die wenigsten haben ihr Glück gefunden. Obwohl alle Schönheiten, von den wunderbaren Seestücken bis zu den in Wellen und Wolken verwirbelten, ganz von Farbe befreiten Ansichten auch in den Bildern liegen. Große schwarzweiße Karten der Welt und kleine, in Sepia gehalten, mit Wachs aufgetragene Veduten, in wenigen Bewegungen sind in dem Zyklus „Spanien 1492“ Landschaften und Fluchten entstanden, gerade bevor das Wachs sich festigt und jeder weitere Strich, jede kommende Geste Bruch bedeuten würde.

Wie Kaltnadel-Radierungen, ganz und gar nicht von jetzt sehen die Bilder aus,
in Sepia gestrichene Horizonte aus einer fernen Zeit, 1492, der Entdeckung Amerikas und der Vertreibung der spanischen Juden, und erst vor einem Jahrhundert wurde das Verbot für die Sepharden aufgehoben, eigene Gotteshäuser zu errichten. Die Familie Spinozas floh nach Holland, Pissaro nach Frankreich und Canetti nach Bulgarien.

Mattner betitelt die Bilder des Exodus mit „Ahasver“, „Flucht“, oder mit dem kyrillischen, rückwärts (oder vorwärts) gewandten „?“ (russisch Ich), das schon anderes Zwielicht bezeichnete. Zur rechten Seite schwenkend kugelt die Hirnrinde, auf bloßer Landschaft gestempelt, die zwei Hemisphären, von hinten gesehen, wirken angenagt, der widrigen Atmosphäre der Geschichte ausgesetzt, die Rindenfelder rechts fallen ab und werden dem Boden gleich.
Jakob Mattner ist Meister hurtiger Andeutungen und der „Augenschein ist gegen den Historiker“ (Nietzsche), er malt Bilder ausgesetzter Blicke, unmögliche Bilder, die nicht sein können, wie sie hier vor uns hängen, die zu zart und gewaltig sind, die Horizonte zu fern und nah, das Licht rein und getrübt und alles stimmt und hätte nicht anders sein können. Denn sind es nicht historische Aufnahmen? Fällt nicht der Horizont schräg ins Bild in „Neufundland 2“ und wann war es, da die Gischt das dunkle Ufer erreichte („Neufundland 1“)? Hat die Salzwüste einen Ort und war es Tag oder Nacht? Und wie kam Mattner an die Wolokamsker Chaussee 1941, „zwischen Moskau und Berlin / Im Rücken einen Wald einen Fluß vor Augen / Zweitausend Kilometer weit Berlin / Einhundertzwanzig Kilometer Moskau“ (Heiner Müller)?

Kameralose Photograpien, die Bilder mußten endlich rausgespült werden, entwickelt im Bad der Zeit, bevor die Ufer ganz verschwinden.

Zur Bezeichnung der Anschauung der Dinge unter dem Blick des Allegorikers Charles Baudelaire schrieb Walter Benjamin: „Vergleichen wir die Zeit einem Photographen – die irdische Zeit einem Photographen, der das Wesen der Dinge aufnimmt. Aber nach der Beschaffenheit dieser irdischen Zeit und ihres Apparates bekommt er nur das Negativ des Wesens auf die Platte. Und niemand kann diese Platte lesen, niemand aus dem Negativ des Wesens, wie die Zeit es von den Dingen zeigt, das wahre Wesen, wie es ist, herauslesen. Und das Elixir der Entwicklung ist unbekannt.“
Nicht Charles Baudelaire, nicht Jakob Mattner haben dieses Lebenswasser gefunden – keinen Fortschritt in dieser Kunst – , das die Menschen zu Zeugen gegen ihre Überlieferung aufriefe, aber mit „unendlicher Anstrengung“ vermag er allein „aus dem Negativ des Wesens eine Ahnung seines Bildes zu gewinnen.“

In Jakob Mattner wohnt eine tiefe, eine bewundernswerte Skepsis der Photographie gegenüber, diesem Geschoß, das nie erfahrene Momente in die Welt schnellen und uns oft staunen läßt, wie einfach doch eine Welt in ihr Bild zu kippen ist. Stets hat er das Licht behutsam wirken lassen und ohne jegliche Fixierung spiegelt er es zur Figur, kehrt die Photographie um, nutzt ihre Elemente, Licht, Schatten, Glas, Spiegel und Glauben, verneigt sich vor dem Paradox der Photographie, allem Werden ein Ende zu setzen und doch dieses Ende werdend zu halten, und komponiert mit seinen aus dem Vergangenen ins Künftige weisenden Bildern die Inversion des Photographischen.

Nur bildlich, denkbildnerisch, allegorisch greift er zur Photographie, sie ist ihm das Negativ eines Sehens, das eher in die Sonne schaut, als daß es sich im Dunkel fixieren wollte.

Mit Glas, Fettstiften, Farben, Wasser, Wachs, Fundstücken, Spiegeln oder Resten werden Augenblicke gebildet, die sich weder um das Authentische noch um den Chronos scheren, die vielmehr Blicke beäugen, die eher sich blenden ließen, als sich im Sehen erfüllt zu wissen.

Jakob Mattners Kamera ist die Kammer, in die Licht einfällt, die „camera obscura“, aus der wir mit ihm herausblicken in die Sonne mit den „Helios-Negativen“, Hinterglasmalereien, die den Blick im Zwielicht bergen, „Helios-Negative“, die an das Schwärzen der Glas- oder Spiegelscherben erinnern, dieses Handanlegen an den Blick, der die Sonnenfinsternis verfolgen wollte, die Auslöschung des Lichts, ohne geblendet zu werden. Die „Helios-Negative“ malen ein Versprechen, sie sind das Mal einer Verheißung, eben des gar nicht Sichtbaren vorbildlos ansichtig zu werden. Eben nicht den Moment aufzunehmen, sondern das Werden des Moments in Aussicht zu stellen.

Der Augenblick à la Mattner liegt im Begriff des Übergangs, der Berührung, in der das Momentane in physikalisch nicht messbarer Zeit ausgesetzt wird – eine doppelte Bewegung der Aufhebung also, die den Einfall des Lichts ankündigt und zwar in ebenso geklärter Metapyhsik, wie es der gefundene Kinopalast in Portugal mit seinem Namen „Messias“ anklingen läßt.

Das Zwielicht Jakob Mattners bewegt sich in dieser entschiedenen Unentschiedenheit, Bedeutung, die im Begriff des Übergangs ist, auf der Schwelle zum Anderen. Und so widerstreben die Momentaufnahmen von Jakob Mattner der Verfügbarkeit der Bilder, sie machen die Zeit selbst zum Movens der Anschauung. „Auf lateinisch“, sagt Sören Kirkegaard, „heißt der Augenblick momentum, dessen Ableitung (von movere) nur das bloße Verschwinden ausdrückt.“

Aber nicht das Einhalten des Augenblicks bestimmt die Licht-Kunst Mattners, sondern eben das Werden des Moments – weder da, noch verschwunden. Deshalb kann man ihn auch einen stillen Übersetzer nennen. Denn er führt gleichsam den Augenblick in dessen Verheißung, noch nicht da zu sein, aber sich selber in messianische Erwartung zu stellen.

Das Mattner’sche Mal bahnt diesem Augenblick, diesem Moment, da unser Auge über das Bild rollt, eine Ankunft. So sind seine Bilder zwischen den Zeiten, wie die „Sofortbilder Zukunft“ uns das Polaroid vor Augen führen, das noch nicht, aber gleich und sicherlich bald, ausgelöst sein wird.

Das Versprechen des Allegorikers Jakob Mattner liegt in dieser Pause, dem gemachten Moratorium, der angekündigten, jedoch noch nicht eingetretenen Momentaufnahme.

In dem surrealen Roman „Einladung zur Enthauptung“ beschreibt Vladimir Nabokov, dessen helle Verhöhnung des Photographischen Jakob Mattner, wie mir scheint, teilen muß, die historische Pause, derer jede Entwicklung bedarf, um sich von gerichteter Eindeutigkeit befreien zu können: „Als ich klein war, auf einem fernen Schulausflug, als ich von den anderen getrennt wurde, fand ich mich einmal – aber vielleicht habe ich es geträumt – unter der stechenden Mittagssonne in einer verschlafenen kleinen Stadt, so verschlafen, daß der Schatten eines Mannes, der auf einer Bank unter einer leuchtenden weißgetünchten Mauer gedöst hatte und sich schließlich erhob, um mir den Weg zu weisen... daß sein blauer Schatten auf der Mauer ihm nicht sogleich folgte.
Ich weiß, ich weiß, ich muß etwas übersehen haben, und der Schatten verharrte gar nicht, sondern blieb, sagen wir, an der Unebenheit der Mauer hängen... Aber ausdrücken will ich dies: Zwischen seiner Bewegung und der Bewegung des zaudernden Schattens – jene Sekunde, jene Synkope – liegt die seltene Art von Zeit, in der ich lebe – die Pause, der Hiatus, wenn das Herz wie eine Feder ist...“.